Die Corona-Krise hat das Thema digitales Lernen plötzlich in das kollektive Bewusstsein gehoben. Studiengänge finden digital statt, Menschen lernen gemeinsam in Webinaren und die Kinder werden von zu Hause aus über den PC unterrichtet. Ein Interview mit Dr. Florian Sochatzy, CEO Institut für digitales Lernen.
Dr. Florian Sochatzy
CEO Institut für digitales Lernen
Glauben Sie, dass die digitale Entwicklung auch nach der Krise anhalten wird?
Vielen Menschen fehlt bei rein digitalen Formaten die menschliche Ansprache, also das Gefühl des körperlichen Beieinanderseins und des umfassenden sinnlichen Eindrucks anderer Menschen.
Einerseits gibt es damit den Wunsch nach Rückkehr zur bis dato gewohnten Normalität, andererseits werden Menschen die Vorteile der jetzigen Situation auch nach der Krise erhalten wollen: die zeitliche und räumliche Flexibilität, die Reduktion von trostlosen Bullshit-Konferenzen und die Zeitersparnis durch das nicht mehr ständig nötige Pendeln zum Arbeitsplatz.
Unsere Prognose ist daher, dass es zu einer deutlich flexibleren Mischung von Präsenz und Remote, von analog und digital kommen wird, um das jeweils Beste der beiden Welten miteinander zu verbinden.
Eine Herausforderung dabei ist sicherlich, dass private Unternehmer und staatliche Akteure auch das umfassende Einsparpotenzial digitaler Umsetzungen immer umfassender erkennen und dies wohl auch nach der Krise gerne nutzen würden. Warum noch ein großes Bürogebäude betreiben, wenn sich in der Krise Videokonferenzen als offenbar funktionaler erwiesen haben?
Wenn die Corona-Pandemie nicht gekommen wäre, wie viel länger hätte es Ihrer Meinung nach gedauert, bis wir auf dem momentanen digitalen Stand wären?
Zunächst bin ich gar nicht sicher, wie viel sich tatsächlich weiterentwickelt hat, also ob wir qualitativ überhaupt einen neuen Stand erreicht haben.
Vieles, was wir derzeit sehen, sind Digitalisate, also digitale Nachbildungen analoger Inhalte, Prozesse und Formate. Immer noch herrscht vielerorts die Überzeugung, Digitalisierung sei eine Art Fortsetzung der analogen Welt mit anderen Mitteln.
Ein neuer digitaler Stand im Bildungsbereich wird erst erreicht werden, wenn die Potenziale des Digitalen etwa hinsichtlich individueller Förderung, kreativer Kommunikation, neuer Lernmethoden etc. tatsächlich genutzt werden.
Eine Vorlesung wird nicht dadurch besser, dass der Herr Professor seine 20 Jahre alten Erkenntnisse nun statt in einen überfüllten Lehrsaal in eine Kamera hinein verkündet und ihm 250 Studierende in Schlafanzügen daheim mehr oder weniger folgen, während sie ein Browsergame zocken und am Ende ein Multiple-Choice-Quiz über die Note des Seminars entscheidet.
Um ein neues Level zu erreichen, müsste man also zunächst das Format Vorlesung konsequent hinterfragen: Wie könnte man Studierende so aktivieren, dass sie sich intrinsisch motiviert mit relevanten Themen und unter Beachtung aktueller Bezüge auf Gesellschaft und Wissenschaft in einer kreativen, medial hochwertigen und nachhaltigen Weise befassen?
Sind die Technologien von heute bereit, den Präsenzunterricht an Universitäten und Schulen zu ersetzen, oder brauchen wir neue Entwicklungen?
Technologien von heute sind nicht dazu in der Lage, einen vollen Ersatz für alle Facetten der auch und gerade beim Lernen in der Gruppe stattfindenden, hochkomplexen sozialen und emotionalen Interaktion zu liefern.
Aber nehmen Sie das Beispiel Social VR: Hier können sich mehrere Akteure im virtuellen Raum aufhalten, sehen und austauschen – erste Schritte in eine Welt, die sehr bald wohl auch taktile Reize erlebbar machen wird. Die Welten, in denen wir leben – „reale“ wie „künstliche“ –, werden zudem immer überzeugender zusammengeführt.
Aber wie gesagt, bei allen technischen Entwicklungen sollten wir zunächst grundsätzlich fragen, welche Lerntechnologien wir für welche Lernformen und Lernziele nutzen wollen. Dabei wird fast automatisch ein Mix aus verschiedensten digitalen und analogen Lernformen entstehen.
Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich, wenn es um die Digitalisierung des Lernens geht?
In Deutschland tut man sich sehr schwer, schnellen und grundlegenden Wandel zu begrüßen und zu gestalten. In unserer Wahrnehmung sind bei diesen Fragen leider sehr oft verharrend-verwaltende Akteure an den Schlüsselstellen zu finden. Digitalisierung des Lernens ist nicht in erster Linie eine technologische, sondern eine mentale Frage. Und solange die meisten Akteure glauben, dass die Schule an sich grundsätzlich schon so in Ordnung ist, wie sie ist, wird sich nichts Substanzielles ändern. Es gibt natürlich weltweit sehr chancenreiche Projekte, die zeigen, was möglich wäre: KI-gestützte Leistungsdiagnostik, eine starke Differenzierung der Lernwege, Lehrer, die mit hohem Technikeinsatz agieren – von der Unterrichtsplanung bis zur Notenverwaltung.
Welche Vorteile bietet das digitale Lernen gegenüber der Präsenzlehre?
Das eine ist nicht das Gegenteil des anderen. Digitales Lernen sollte grundsätzlich eng mit analogen Phasen und Methoden verbunden werden. Menschen und digitale Techniken können sich sehr gut ergänzen, wenn die jeweiligen Konzepte gut durchdacht sind.
Gleichwohl gibt es natürlich Felder, in denen das Digitale seine Stärken ausspielen kann. Dezentrale, kollaborative Produktion von Arbeitsergebnissen ist so ein Beispiel.
Kann digitales Lernen in Zukunft die Anwesenheit in Schulen und an Universitäten ersetzen, oder brauchen wir trotzdem den Präsenzunterricht?
Lernen ist grundsätzlich ein sozialer Prozess, Menschen sehen sich dabei, sie hören zu, sie lesen die Mimik des Gegenübers und reagieren auf dessen Interaktion mit anderen. Derzeit ist dies, wie gesagt, nicht vollumfänglich und hochwertig digital aufzufangen. Wir sollten aber Präsenzveranstaltungen in ihrer derzeitigen Gestaltung hinterfragen: Findet dabei tatsächlich soziales Lernen statt oder hören 30 Schüler(innen) nur 45 Minuten am Stück den monologischen Ausführungen einer Lehrkraft zu? Auf jeden Fall sollten wir Lernen und Schule aber nicht mehr mit den Gebäuden, den alten Zwingburgen des Auswendigpaukens, gleichsetzen: Zeit- und Raumvorstellungen werden sich ändern. Nicht immer müssen alle Lernenden zur gleichen Zeit und in den altbekannten Zeitrahmen in einem Raum sitzen und am gleichen Thema mit den gleichen Mitteln arbeiten. Unterrichtsräume lassen sich flexibilisieren und vernetzt denken.